Ist ein behindertes Leben ein „Schaden“?

Seit den 1970er Jahren mehrten sich in den USA Zivilverfahren, in denen Eltern erfolgreich auf Schadensersatz wegen der Behinderung ihres Kindes klagten. Sie begründeten ihre Klagen mit einer vorgeburtlich nicht ausreichend geprüften Behinderungswahrscheinlichkeit des Fötus. Sie warfen ÄrztInnen respektive Pharmakonzernen vor, nachlässig agiert zu haben. Aufgrund mangelnder Sorgfalt hätten die Angeklagten den Eltern die Möglichkeit genommen, die Schwangerschaft zu unterbrechen. Dabei klagten sowohl die Eltern (‚Wrongful Birth‘) als auch die Kinder selbst (‚Wrongful Life‘) immer erfolgreicher auf Kompensation. Die Frage, ob die durch ärztliche Nachlässigkeit genommene Chance des Schwangerschaftsabbruchs einen Schadenersatz ermöglichen könnte, beschäftigte auch deutsche Gerichte. Eine Mutter gab an, gegenüber ihrem Frauenarzt die Befürchtung geäußert zu haben, während der Schwangerschaft an Röteln erkrankt zu sein. Eine Rötelnerkrankung in der Schwangerschaft kann zu kindlichen Behinderungen führen. Da der Arzt die mütterliche Befürchtung fälschlicherweise verneinte, zog die Familie bis zum Bundesgerichthof. Dabei klagte sowohl die behinderte Tochter (vertreten durch ihre Eltern) als auch die Mutter selbst auf Schadensersatz. Der BGH entschied, dass zwar den Eltern Kompensation für erhöhten Pflegeaufwand zustehe, jedoch nicht dem Kind. Die Alternative zwischen Existenz und Nichtexistenz lasse sich nicht in juristischen Schadenskategorien begreifen. Die globalen Behindertenbewegungen, die Disability Studies und ihre rechtwissenschaftlichen Arme weisen auf die Abwertung behinderter Menschen durch diese Schadensersatzklagen hin.


Literaturhinweise:
  • Brown, Lydia X. Z.: Legal Ableism, Interrupted: Developing Tort Law and Policy Alternatives to Wrongful Birth and Wrongful Life Claims, in: Disability Studies Quarterly, 38. Jg., 2018, H.2., Zugriff am 01.10.2020 unter http:// dsq‐sds.org/article/view/6207/4903
  • Herzog, Dagmar: Unlearning Eugenics. Sexuality, Reproduction, and Disability in Post-Nazi Europe, Madison 2018.
Raphael Rössel. Date: Dezember 2020

Bibliographische Angaben

Kommentar von Raphael Rössel zum BGH, Urt. v. 18. Januar 1983 .

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