Neue Aufmerksamkeit, anderer Ton. Der Contergan-Skandal bewirkte eine zuvor unerreichte Sichtbarkeit behinderter Heranwachsender in der Bundesrepublik. Das thalidomidhaltige Schlafmittel Contergan wurde seit 1957 in der Bundesrepublik vertrieben und auch bei Schwangerschaftsübelkeit verschrieben.
Tausende Neugeborene wurden in Folge der Einnahme des Schlafmittels während der Schwangerschaft mit Dysmelien, also Gliedmaßen-Fehlbildungen, oder Sinnesbehinderungen geboren. Dieser Umstand stattete die sogenannten „Contergan“-Kinder und ihre Angehörigen mit einem moralischen Kapital aus. Die anhaltende Medienberichterstattung ermutigte Eltern, gegen die bestehenden, als zu schematisch und gering bewerteten Sozialhilfemaßnahmen Beschwerde einzulegen. Insgesamt erhöhte der Skandal die öffentliche Wahrnehmung verschiedener, bereits zuvor existierender, aber wenig thematisierter Problemkomplexe behinderter Menschen: Die öffentliche Diskussion um Prothesen und Heilgymnastik erhielt neue Nahrung. Die Frage nach der Barrierefreiheit öffentlicher Gebäude und vor allem von Schulen rückte erstmals in den Mittelpunkt. Wie auch durch diesen Bild-Beitrag schrieben Boulevardartikel die tagtägliche Ausgrenzung behinderter Menschen und ihrer Angehörigen in das kollektive Bewusstsein ein. Allerdings bestätigte diese Variante der Berichterstattung auch ein alteingeführtes Vorurteil. Die Journalisten begriffen das familiäre Leben mit behinderten Kindern alternativlos als Belastung.
Kommentar von Raphael Rössel zum Bildartikel vom 03.09.1965.
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