Interview von 1979/80 zu „Matthias“, in: Gerda Jun: Kinder, die anders sind. Ein Elternreport. Frankfurt a.M./Berlin 1994, S. 119-126. [Auszüge]

Bisher haben wir nur Ablehnungen erlebt:

- Die Sprachheilschule kam nicht in Frage, weil dort nur Stotterer aufgenommen werden.

- In die Schwerhörigenschule kam der Junge nicht, weil dort nur Kinder mit Innenohrschädigung aufgenommen werden.

- Die Sonderschule nahm Matthias nicht, weil er „zu schlau“ ist. Er wurde dreimal abgelehnt, da kein „Schwachsinn“, keine geistige Behinderung vorliegt.

- Die Spezialklasse für konzentrations- und verhaltensgestörte Schüler nimmt ihn nicht auf, weil wir wohnungsgemäß nicht zu L. gehören. Mit der Straßenbahn käme Matthias aber gut hin.

Also wird der Junge weiterhin in der Normalschule mit dem Unterrichtsstoff gequält, von anderen Kindern laufend aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeiten geärgert, wird weiterhin Schwierigkeiten mit dem Gehör und mit der Sprache haben. Muß er da nicht zu einem Außenseiter werden? Dieses Jahr kann Matthias nicht versetzt werden. […] Unsere Bemühungen und Hilfen bei den Hausaufgaben waren also im Prinzip umsonst. […] Ich möchte aber dem Jungen gerne helfen, sehe jedoch mit Bangen den zermürbenden Bemühungen bei der Wiederholung der 4. Klasse entgegen, denn ich glaube nicht, daß sich bei Matthias im Verhalten viel ändern wird. […] Gibt es denn keine Möglichkeit mehr, daß endlich einmal eine gründliche Überprüfung erfolgt? […] Zu meiner sechststündigen Arbeitszeit (einschließlich Pausen) kommen meistens vier Stunden Hausaufgabenzeit dazu. Auch sonst benötigt man für die Betreuung des Jungen die dreifache Zeit, als es bei normalen und gesunden Kindern der Fall ist. Meine eigentliche Hausarbeitstätigkeit beginnt fast immer erst nach 20 Uhr, wenn die Kinder im Bett sind. Ich bin dann ständig restlos abgespannt. Auf die Wochenenden kann ich mich insofern freuen, als ich dann zum Wäschewaschen, Fensterputzen, Saubermachen usw. komme. Freizeit und Erholung – Fremdwörter für mich! Auch das ganze Familienleben leidet sehr stark darunter. Die sozialen Rechte für Behinderte werden auch von mir begrüßt. Doch leider treffen diese auf Matthias und unsere Familie nicht so richtig zu. Es werden aber doch jedem Kind die gleichen Bildungsmöglichkeiten garantiert! Ich habe Kenntnis von mehreren Kindern, die aufgrund einer Körperbehinderung jeden Tag mit einem Taxi in die entsprechende Sonderschule gefahren werden. Diese Mütter können täglich wahrscheinlich länger als fünfeinviertel Stunden berufstätig sein, erhalten vielleicht Pflegegeld, brauchen nicht täglich bis zu vier Stunden mit dem Kind bei den Hausaufgaben zu sitzen, um dann festzustellen, daß ein Jahr lang die aufgebrachte Zeit vergeblich war, da das Schuljahr wiederholt werden muß. Ich habe schon mal gedacht: Manches Langdon-Down-Kind macht den Eltern weniger Sorgen.

Date: 1979/80

Bibliographische Angaben

Gerda Jun: Kinder, die anders sind. Ein Elternreport. Frankfurt a.M./Berlin 1994, S. 119-126. [Auszüge]

Lizenz

Link

XML-Quelltext

Version