Liebe Eltern!
Sie sind mit Ihrem Kind zu uns gekommen, weil es sich nicht so entwickelt wie andere Kinder. Sie waren erschrocken – oder wollten es nicht glauben, daß Ihr Kind anders ist. Sie suchten Hilfe – und wurden oft enttäuscht. In Ihrer Familie gab es so etwas noch nicht, […] – und daß es so etwas oft in Ihrer Umgebung gibt, haben Sie nicht gesehen. Sie waren völlig unvorbereitet, darum waren Sie hilflos.
An dieser Stelle waren Sie aber schon einen großen Schritt für Ihr Kind gegangen. Sie beobachteten es, Sie waren aufmerksam geworden, und Sie wissen nun schon eins, eine sehr große Aufgabe steht vor Ihnen.
Manchmal werden Sie denken, daß Sie es nicht mehr schaffen – wenn Sie aber nicht enttäuscht aufgeben, werden Sie erfahren, daß Menschen da sind, die Ihnen weiter helfen. Eine Schriftstellerin sagt: „Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.“
Warum empfinden wir so viele Enttäuschungen? Manchesmal sicher, wenn wir zu viel erwarten. Wir erwarten Verständnis in vielen Bereichen unseres Lebens, weil wir an einer Stelle so belastet sind. Haben wir aber so sichtbar mit unserem Kind gelebt, daß die Menschen, von denen wir jetzt Verständnis erwarten, überhaupt unsere Belastung sehen könnten?
Wir erwarten Hilfe. Erinnern wir uns nicht mehr, wie hilflos wir einmal vor der Aufgabe an unserem Kind standen?
Es wäre vielleicht für uns leichter, nicht so oft enttäuscht zu resignieren, wenn wir versuchten, die Hilflosigkeit der anderen zu verstehen. Wir sind mit unserem Kind viele Schritte gegangen, die uns ohne dieses Kind nicht bekannt geworden wären. Versuchen Sie, in Ihrer Umgebung Eltern in gleicher Situation zu finden, um mit ihnen in ein hilfreiches Gespräch zu kommen. In vielen Orten gibt es solche Gesprächskreise. Aber noch sind Sie allein, was können Sie jetzt tun?
Es gibt nur wenige Regeln, die für alle Kinder zu befolgen sind, und auch diese nur in Variationen – unsere Kinder sind ja so verschieden.
Unser Kind ist soweit als möglich wie ein gesundes Kind zu behandeln, auch wenn es nicht so reagiert.
Es braucht genauso viel frische Luft wie ein anderes Kind.
Es braucht mehr Anregung zum Sehen, Greifen usw. Farben, Geräusche, Material regen an. Gelerntes muß immer wiederholt werden. Das Kind muß langsam, mit kurzen, möglichst immer gleichen Sätzen zu gleichen Handlungen angesprochen werden. Es muß Freude über kleinste Erfolge erleben. Wichtig ist es, angepaßtes Verhalten zu lernen. Wenn Ihr Kind als Kleinkind den Brei mit den Fingern essen darf – weil Sie meinen es versteht es nicht anders – wird es später schwer umlernen und Sie leben mit dem Kind isoliert, weil es so nicht gut zu Besuch, in den Urlaub usw. mitgenommen werden kann.
Es braucht Jahre, aber es wird sauber. Es braucht Jahre, aber es lernt sich anzuziehen. Es braucht Jahre, aber viele behinderte Kinder lernen sprechen.
Viele Eltern haben gehört: „Eine Entwicklung ist nicht zu erwarten“ und haben ihre Mühe dann aufgegeben, und viel versäumt. In vielen anderen Familien zeigen die Tatsachen, daß der angekündigte Entwicklungsstillstand bis zum 10., 15. Oder 20. Lebensjahr nicht eingetreten ist.
Von Ihrer Zugewandheit, Aufgeschlossenheit und Zuversicht hängt es weitgehend ab, wie weit Ihr Kind Fortschritte macht. Es ist bei der Erziehung eines behinderten Kindes noch vieles mehr zu beachten. Darüber werden wir Sie in weiteren Elternbriefen informieren. Wichtig für das Kind ist es in jedem Fall, daß es nicht zum Mittelpunkt wird.
Von der Aussage der christlichen Botschaft her, dürfen wir auch dieses Kind als eine Gabe Gottes annehmen.
Gott mutet uns eine große Aufgabe zu. Es kommt jetzt darauf an, wie wir sie bewältigen. Wir können aufmerksamer, dankbarer und zufriedener werden. Durch unser Kind haben wir viele Chancen.
gez. [anon.]
Heimleiterin
Elternbrief. Dein geistig behindertes Kind. 1. Thema: Dein behindertes Kind – Gabe und Aufgabe, hg. v. Innere Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg. Beirat für Psychiatrie. Berlin ca. 1976-1981, Landeskirchliches Archiv Schwerin/Kirchenkreisarchiv Mecklenburg (Schwerin), 06.03.04. Nr. 38.
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