Kommentar:
Elternvereinigungen – wie die Lebenshilfe (1958) – und Spendenaktionen wie Aktion Sorgenkind (1964) machten die Lebenslagen von Familien mit behinderten Nachkommen öffentlich; jedoch fast ausschließlich aus Elternsicht. Die behinderten Kinder erschienen in ihren Berichten stets als Objekte der Beobachtung, der Therapie und aber schlicht der Sorge. Die Heranwachsenden selbst berichteten, mit wenigen Ausnahmen wie Fredi Saal, quasi nie über ihre Weltsichten, Herausforderungen und Zukunftsvorstellungen. Diese Leerstellen füllten sich im Fahrwasser eines kritischen Journalismus und entstehender Selbstvertretungen behinderter Menschen. In den 1970er und 1980er erreichten Autobiographien behinderter Menschen erstmals ein größeres Publikum, in ihren Berichten prangerten Autor:innen wie Christa Schlett und Jürgen Hobrecht bevormundendes Verhalten ihrer Eltern an. Udo Sierck übte 1989 im abgebildeten Buch „Kritik aus der Sicht eines Behinderten“ und drehte die Elternängste vor einem behinderten Kind subversiv um. Grünen-Politiker Sierck avancierte zu einem zentralen Akteur der sogenannten „Krüppelbewegung“. Er und andere VertrerInnen verschiedener Behindertenbewegungen klagten über dauernde Elternvorwürfe, permanentes Verstecken sowie eine stete Dankbarkeitserwartung. Die Emanzipation von institutionellem wie familiärem Paternalismus bildete und bildet ein Ziel des Disability-Aktivismus. Ungeklärt blieb jedoch bisher, ob und wie die aktivistische Elternkritik auf die alltäglichen Auseinandersetzungen zwischen Heranwachsenden und Eltern einwirk(t)en.
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